Wer verrät uns?
Mythen über "die Juden" und Krieg
zum Thema
Malte Holler…
…ist Historiker und politischer Bildner. Als Rechercheur, Projekt- und Ausstellungsentwickler arbeitet er seit vielen Jahren zu Themen deutsch-jüdischer Geschichte, der Holocaustforschung und der Antisemitismuskritik. Mit dem Projektteam von Bildung in Widerspruch e.V. entwickelte er die Website “An allem schuld - wie Antisemitismus funktioniert” (2023).
Prof. Dr. Gideon Botsch…
…ist Politik- und Sozialwissenschaftler. An der Universität Potsdam doziert er in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er publiziert und forscht seit Jahren zu den Themen Antisemitismus und Rechtsextremismus und ist Leiter der "Emil Julius Gumbel Forschungsstelle". Von ihm erschienen ist unter anderem "Umvolkung und Volkstod - Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia" (2019).
Dr. Pia Lamberty…
…ist Psychologin. Sie forscht seit Jahren zu der Frage, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben und ist Mitbegründerin von CEMAS, dem "Center für Monitoring, Analyse und Strategie". Gemeinsam mit Katharina Nocun veröffentlichte sie 2020 den Bestseller "Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen". Im Jahr 2023 erschien außerdem noch "Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik" (2022).
Hier geht es zur Berliner Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen → LINK
Hier geht es zum Beratungskompass Verschwörungsdenken → LINK
Quelle 1 - Sammlung einiger Skandale rund um Korruption und Veruntreuung in der deutschen Politik:
Aserbaidschan-Affäre | Hannes Munzinger, Maria Retter: Korruptionsanklage gegen Ex-Unionsabgeordnete. Artikel ZDF-heute vom 29.01.2024-> LINK
Quelle 2 - Ruben Below, Yasemin El-Menouar, Ines Michalowski – Religionsmonitor. Verschwörungsglaube als Gefahr für Demokratie und Zusammenhalt Erklärungsansätze und Prävention. 23 Hg. für die Bertelsmann-Stiftung. Gütersloh 2025.
Quelle 3 - Laurent Cordonier, Florian Cafiero, – Public sector corruption is fertile ground for conspiracy beliefs. A comparison between 26 Western and non-Western countries. Social Science Quarterly 2024, S. 1–19.
Quelle 4 - Andreas Zick, Beate Küpper, Nico Mokros – Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23 Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 2023.
Quelle 5 - Julius H. Schoeps - Gabriel Riesser. Demokrat – Freiheitskämpfer – Vordenker. Berlin 2020.
Quelle 6 - Hrsg. Jeffrey L. Sammons - Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus - Eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen 1998.
Quelle 7 - Anti-Defamation League – Right-Wing Extremist Terrorism in the United States -> LINK
Quelle 8 - Anti-Defamation League – Antisemitic Attitudes in America 2024 -> LINK
Quelle 9 - Sergio Della Pergola – World Jewish Population, 2024. American Jewish Year Book, 2025.
Quelle 10 - Jacob Kovalio – The Russian Protocols of Zion in Japan: Yudayaka/Jewish Peril Propaganda and Debates in the 1920s. Asian Thought and Culture. Bristol 2009.
Quelle 11 - Wahlplakat der ungarischen Fidesz Partei: “Sie haben das Recht zu wissen, was Brüssel vorhat”. Fidesz ist bekannt für ihre antisemitische Rethorik und Verbreitung von Verschwörungserzählungen -> LINK
Script
„Verdächtig Mächtig“ - Ein Podcast über Judenfeindschaft und Verschwörungsdenken. Was kennzeichnet Verschwörungsmythen? Warum spielen Fantasien über Jüdinnen und Juden dabei oft eine zentrale Rolle? Und wie kann man dem entgegenwirken? Gemeinsam mit unseren Gästen suchen wir nach Antworten. Ein Projekt von Bildung in Widerspruch e.V. Gefördert im Rahmen des Berliner Landesprogramms Demokratie, Vielfalt, Respekt, gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung.
Moderation: Benny Fischer
Willkommen zu unserer vierten Episode von verdächtig mächtig. Alle, die uns schon bis hier hin gefolgt sind, ahnen wahrscheinlich schon unser Thema. Wir sind bereits tief in den antisemitischen Verschwörungsglauben eingetaucht und haben die klassischen Motive unter die Lupe genommen. Und die alle ergeben ein Muster, dass sich in dieser Episode offenbart: Banken, Börsen, die Medien ... All das – fest in jüdischer Hand. Zumindest, wenn man nach Verschwörungsgläubigen geht. Und warum das alles? Es geht natürlich um Macht! Denn wer die Finanzsphäre und die Meinungsbildung kontrolliert, der hat Einfluss auf fast alle Bereiche des Lebens – auch auf die Politik. Diesem Vorwurf widmen wir uns heute: dass Jüdinnen und Juden irgendwie die Politik kontrollieren würden. Zuerst wollen wir aber klären: Warum glauben Menschen denn überhaupt an so etwas wie eine Verschwörung in der Politik? Dazu befragen wir unseren Experten Malte Holler:
Malte Holler
Die Welt der Politik ist natürlich eine, die immer einlädt zu Verschwörungserzählungen. Denn in der Politik geht es natürlich auch um Macht, es geht um Ränkespiele, es geht um Entscheidungen, die getroffen werden. Es geht um Entscheidungen, die auch repräsentativ getroffen werden für andere. Das heißt, die Politik lebt natürlich auch von unterschiedlichen Kräfteverhältnissen, von Absprachen, von Verhandlungen und manchmal auch von Intrigen. Und das ist natürlich etwas, was uns gefällt. Jeder gute Plot eines politischen Thrillers hat die Verschwörung zur Grundlage und da sieht man schon, wie nah das auch in unserem Alltag eigentlich ist.
Intrigen, Komplotte, Verschwörungen – popkulturell ist das Thema schon ganz schön ausgeschlachtet worden. Aber das ist nicht alles Fantasie. Allein in Deutschland gab es in den letzten Jahrzehnten dutzende Skandale über Korruption, geheime Ansprachen oder Verbindungen in die Wirtschaft. Gibt es sie also nicht auch wirklich, Verschwörungen in der Politik?
Malte Holler
Jenseits der bloßen Fantasien über Verschwörungen gibt es natürlich auch Formen realer Verschwörungen oder verschwörerischer Strukturen. Es gibt die Arbeit von Geheimdiensten, die natürlich schon aufgrund ihrer erklärten Tätigkeit geheim stattfinden muss oder im Geheimen wirken muss. Und dann gibt es natürlich auch viele Möglichkeiten und viel Raum für alle möglichen Spekulationen und Fantasien darüber, was die denn genau machen und zu welchem Zweck. Oder woran sie beteiligt sind oder was worauf zurückzuführen ist. Es gibt auch reale politische Verschwörungen wie Abhörskandale von politischen Gegnern oder Korruptionsaffären, irgendwelche Dinge, die moralisch zu verurteilen sind. Aber dann sozusagen, wenn sie ans Licht kommen, natürlich auch Skandale hervorrufen und auch Misstrauen erzeugen können.
Wir haben also eine popkulturelle Aufladung auf der einen Seite und auch Formen tatsächlicher Verschwörungen auf der anderen Seite. Könnte man dann also sagen, dass es einfach in der Natur der Sache liegt, dass es so viele Fantasien über Verschwörungen in der Politik gibt? Was sagt unsere Psychologin Pia Lamberty dazu?
Pia Lamberty
Generell ist es so, dass es verschiedene Faktoren gibt, die den Verschwörungsglauben befeuern können. Und einer davon ist eben ein Gefühl von politischem Kontrollverlust. Und zwar vor allem bei Ereignissen, die als gewichtig wahrgenommen werden. Bedeutet also: Wenn das Nachbarskind Geburtstag feiert, gehen wir wahrscheinlich nicht von einer Verschwörung aus, aber im politischen System passiert das sehr viel schneller. Gerade für Menschen, die Probleme haben mit der Komplexität der Welt, der Komplexität auch von politischen Systemen. Da ist der Verschwörungsglaube ein bisschen so eine Art Abkürzung. Man muss sich nicht mehr mit Strukturen auseinandersetzen, mit komplexen Gemengelagen, man hat einfach ein Feindbild, dieses Feindbild ist an allem schuld und damit hat sich dann quasi die Gesellschaftsanalyse. Ich denke, dass Politik so eine große Rolle spielt, hat natürlich zum einen mit der Relevanz für das eigene Leben zu tun, aber auch und tatsächlich mit realen, negativen Erfahrungen. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass politisches Misstrauen den Verschwörungsglauben natürlich nochmal befeuern kann. Und zwar nicht nur auf einer Individualebene, sondern neuere Studien zeigen auch, dass da, wo die Korruption auf Länderebene besonders stark ist, die Menschen auch eher an Verschwörungen glauben.
Also tatsächliche politische Missstände wie Korruption können Verschwörungsglauben noch verstärken... aber ursächlich sind sie nicht. In der Wissenschaft nennt man das Gefühl von Machtlosigkeit auf politischer Ebene „politische Deprivation“. Und die hängt stark zusammen mit menschenfeindlichen Einstellungen, wie auch dem Antisemitismus. In Deutschland glauben übrigens 30%, dass die regierenden Parteien das Volk betrügen würden. Fast jeder Dritte. Das legt ein enormes Misstrauen in die Politik offen. Das ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Verschwörungsdenken. Bei diesem geht es nicht um den einen korrupten Politiker, oder einen allgemeinen Vertrauensverlust. Da geht es um den Glauben an eine heimliche mächtige Elite, die im Verborgenen die Geschicke der Politik lenkt. Beschrieben wird sie dann zum Beispiel mit Begriffen wie „Schattenregierung“ oder „Deep State“. Wer diese heimliche Elite stellt, dazu gibt es unter Verschwörungsgläubigen unterschiedliche Meinungen. Aber oft genug wird Jüdinnen und Juden diese Macht zugeschrieben.
Malte Holler
Wenn wir danach fragen, welche Sphäre von Politik eigentlich von diesen antisemitischen Verschwörungserzählungen berührt sind, dann würde ich sagen, es ist eigentlich fast wahllos austauschbar, welche Sphäre von Politik man sich da vorstellen kann. Das kann tatsächlich über die Einflussnahme im ganz Kleinen reichen, das kann auch von einer individuellen Anschuldigung einer einzelnen Person, die tatsächlich jüdisch ist oder als solche gemutmaßt wird, ausgehen. Es kann aber auch das ganz große politische Weltgeschehen sein, hinter dem dann plötzlich irgendwelche Juden stehen, die angeblich die Weltgeschicke zu lenken versuchen und Einfluss nehmen auf Regierung und globale Geschehnisse oder wirtschaftliche Entwicklungen. Also hier treffen wir tatsächlich auf eine gewisse Willkürlichkeit der Einordnung.
Diese Willkürlichkeit spiegelt sich auch in der Vielfalt judenfeindlicher Verschwörungsmythen der letzten Jahrhunderte wider. Alle möglichen Geheimbünde oder politischen Machtwechsel wurden irgendwann schon mal als angebliche jüdische Verschwörung deklariert, wie zum Beispiel die Freimaurer oder die Französische Revolution. Im 19. und 20. Jahrhundert standen Jüdinnen und Juden angeblich schon hinter Terroranschlägen, Attentaten, Modernisierungen, Umstürzen… Aber auch hinter diversen fortschrittlichen politischen Bewegungen oder Ideologien witterten Verschwörungsgläubige eine jüdische Macht. Manchmal sind sie sogar gleichzeitig für Gegensätzliches verantwortlich. Angeblich kontrollieren sie Börsen und Banken und damit den Kapitalismus. Gleichzeitig wird behauptet, Jüdinnen und Juden stünden hinter den kommunistischen Bewegungen, die den Kapitalismus überwinden möchten! Wie soll das alles gehen? Fragen wir dazu unseren Historiker Gideon Botsch:
Gideon Botsch
Das ist aber das Spezifische an der Judenfeindschaft: Sie ist eben deswegen so als Vorurteil so wirkungsvoll, weil sie sich nicht fixieren lässt. Weil sie immer wieder ausweichen kann. Und das konnte man eigentlich im 19. Jahrhundert schon sehen. Ein kluger Interpret, Gabriel Riesser, hat schon in den 1830er Jahren den Judenhass beschrieben als „ein totes Meer des Hasses“ aus dem jeder sich bedienen kann, der einen Feind schmähen will. Er findet immer ein Vorurteil, in diesem Toten Meer des Hasses. Immer einen Vorwurf, den er dem Feind entgegenschleudern und mit dem Wort „jüdisch“ versehen kann. Oder auch nur mit der Assoziation „jüdisch“ – indem ich genug Motive erwähne, die sozusagen die Gedankenkette sofort auslösen: „Aha, ist das etwa ein Jude!“, selbst wenn derjenige, der hier spricht, das Wort Jude gar nicht in den Mund nimmt. Deswegen funktioniert das so gut.
Wie antisemitische Verschwörungserzählungen eingesetzt werden, um Regierungen oder politische Bewegungen zu bekämpfen, lässt sich im frühen 20. Jahrhundert aufzeigen: Im zaristischen Russland bahnt sich ein Machtwechsel an. Die kommunistische Bewegung erhält immer mehr Zuspruch. Staatszeitungen und der zaristische Geheimdienst verbreiten die Verschwörungserzählung, dass der Kommunismus ein Geisteskind jüdischer Mächte wäre. Auch im Osmanischen Reich bröckelt die Machtstellung der islamischen Herrscherfamilie: 1908 kommt es zum nationalistischen Aufstand der Bewegung der „Jungtürken“. Sie zwingen den Sultan, eine modernere Verfassung zu akzeptieren. Damit ist er faktisch entmachtet. Religiöse Gegner der Modernisierung behaupten, hinter der jungtürkischen Revolution würden Jüdinnen und Juden stehen. Und in Deutschland geraten liberale und sozialdemokratische Parteien in den Fokus. Die Weimarer Republik wird als „Judenrepublik“ verschrien, die die deutsche Nation in Wirklichkeit zerstören wolle. Im Zuge der antisemitischen Hetze verüben Nationalisten etliche politische Morde. Einer der Ermordeten ist der jüdische Reichsaußenminister Walther Rathenau.
Die im russischen Zarenreich verbreitete Verschwörungserzählung kennen wir schon. Sie ist bis heute eine der populärsten antisemitischen Schriften der Welt, übersetzt in unzählige Sprachen. Der Bestseller der Judenhass-Literatur – quasi die Bibel der Verschwörungsgläubigen. Die Rede ist natürlich von den „Protokollen der Weisen von Zion“. Und natürlich gibt es etliche Passage zur Infiltration und Kontrolle der Politik. Wir zitieren:
„Unsere Losung ist: Macht und Hinterlist! Nur die Macht erringt den Sieg in staatsrechtlichen Fragen, namentlich wenn sie sich an solche Persönlichkeiten heran macht, die etwas im Staate zu sagen haben. (...) Daher dürfen wir nicht zurückschrecken vor Bestechung, Betrug, Verrat, sobald sie zu Erreichung unsere Ziele dienen. In der Staatskunst muß man so klug sein, auch vor den fremdartigsten Mitteln nicht zurückzuschrecken, wenn hierdurch nur Unterwürfigkeit und Macht erlangt werden.“
In der antisemitischen Fantasie sind Jüdinnen und Juden böse genug, um skrupellos zu sein, verschworen genug, um nur an die vermeintlich eigenen Interessen zu denken, intelligent genug, um ihre Pläne durchzusetzen – und: Da ihnen seit Jahrhunderten eine Verbindung zum Geld und der kapitalistischen Finanzsphäre unterstellt wird, besitzen sie angeblich auch die nötigen Mittel. Jüdinnen und Juden sind die ultimativen Sündenböcke. Und die „Protokolle der Weisen von Zion“ liefern einen vielseitig einsetzbaren Verschwörungsmythos, mit dem sich einfach alles mit ihrem vermeintlichen Handeln erklären lässt. Auch heute findet sich dieser alte Mythos vielfach im neuen Anstrich. Eine moderne Spielart kommt aus den USA:
In den 1970er Jahren etabliert sich eine moderne Variante der „Protokolle der Weisen von Zion“: Die Verschwörungsfantasie eines „Zionist Occupied Government“, kurz ZOG. Die Erzählung entstammt rechtsextremen Kreisen und ist dort bis heute weit verbreitet. Sie dient dazu, Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen zu schüren. Der ZOG-Verschwörung zufolge werden die USA, aber auch Regierungen weltweit von einer jüdischen Elite kontrolliert oder manipuliert. Heimlich steuerte sie Politik, Wirtschaft und Medien, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und um eine jüdische Weltherrschaft zu etablieren – die sogenannte „New World Order“. Mehrere US-amerikanische Rechtsterroristen waren von dieser Ideologie beeinflusst. Beim Bomben-Anschlag auf ein Regierungsgebäude 1995 in Oklahoma City starben 168 Menschen. 2018 greift ein Attentäter während des Gebets eine Synagoge in Pittsburgh an, elf Menschen sterben. Auch außerhalb der USA gehört die ZOG-Verschwörung zum ideologischen Fundament rechtsextremer Terroristen: In Hanau erschießt 2020 ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen, vor allem aus rassistischen Motiven. Auch er glaubte daran, dass die USA von einer jüdischen Schattenregierung gelenkt werden.
Antisemitismus ist auch in den USA weit verbreitet. Aber die Vereinigten Staaten von Amerika spielen auch im Verschwörungsdenken eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schließlich sind sie eine der großen Weltmächte, sind global tonangebend für Wirtschaft und auch Politik. Da bleibt Kritik nicht aus. Aber auch Verschwörungserzählungen und eine allgemeine Ablehnung sind zu beobachten. Wie schätzt das unser Experte Malte Holler ein?
Malte Holler
Es gibt einen verbreiteten Antiamerikanismus, also das heißt eine ablehnende skeptische Haltung gegenüber den USA und ihrer Kultur, könnte man sagen. Die weist Parallelen auch zu antisemitischen Bildern auf. Gleichwohl sind Antiamerikanismus und Antisemitismus nicht dasselbe, aber es gibt hier viele Verknüpfungsmöglichkeiten. Ich denke, dass wir hier eine Konstellation antreffen, wo sich bestimmte Vorurteilsmuster oder Merkmale, die viele Menschen ablehnen, zusammenkommen. Wir können in den USA und ihrer Geschichte eine Vorreiterrolle sehen in der Entwicklung der modernen liberalen Gesellschaft, die auch eine des industrialisierten Kapitalismus ist. Und das ist genau die Sphäre, wo uns auch Vorurteile begegnen, die Juden und Jüdinnen zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht ganz zufällig, dass auch bestimmte Verschwörungsbilder aus dem Antisemitismus, insbesondere in Bezug auf Amerika, immer wieder anzutreffen sind. Zum Beispiel die Tatsache, dass es eine große jüdische Gemeinschaft in den USA gibt, führt häufig zu Behauptungen, zu Fantasien darüber, dass es dort so etwas wie eine jüdische Lobby gäbe, die besonders einflussreich auf die amerikanische Politik einwirke. Jenseits von tatsächlichen Interessensgruppen, die natürlich in unterschiedlichen Konstellationen modernen Gesellschaften anzutreffen sind, sind hier oft die Bilder über die Maßen mit Fantasien aufgeladen, die tatsächlich auch oft gefährlich sind.
In den USA leben – abgesehen vom Staat Israel – weltweit die meisten Jüdinnen und Juden. Viele meinen, dass sich Antisemitismus und judenfeindliches Verschwörungsdenken vor allem dort zeigen, wo es eine sichtbare und große jüdische Bevölkerung gibt. Aber Antisemitismus finden wir auch in Ländern, in denen gar keine Jüdinnen und Juden leben, wie das Beispiel von Japan im letzten Jahrhundert eindrücklich aufgezeigt hat. Auch dort war der Glaube an eine jüdisch infiltrierte Politik verbreitet – auch ohne jüdische Bevölkerung. Das ist das Interessante am antisemitischen Verschwörungsglauben: Wenn so oder so alles im Geheimen stattfindet, dann kann man Jüdinnen und Juden auch einfach herbeifantasieren.
Und manchmal beziehen sich antisemitische Verschwörungserzählungen auch nicht auf eine unsichtbare jüdische Elite. Stattdessen stehen einzelne jüdische Persönlichkeiten im Fokus. In Europa bezieht sich eine populäre Verschwörungserzählung auf die Themen Flucht und Asyl.
Die Verschwörungserzählung des „Großen Austauschs“, auf Englisch „The Great Replacement“, ist in Kreisen der europäischen extremen Rechten bedeutend. Verbreitung findet sie ab 2011 im Zuge des syrischen Bürgerkrieges. Millionen von Menschen fliehen vor politischer Verfolgung und den Folgen des Krieges. Manche kommen nach Europa. Viele Menschen engagieren sich, um Geflüchtete zu unterstützen. Länderübergreifende Kooperationen von Organisationen, Kirchen und Vereinen entstehen. Dazu gehört die „Open Society Foundations“. Ein Stiftungsverbund, der für den Frieden, die Demokratie und die Menschenrechte einsteht. Ihr wichtigster Förderer ist George Soros, ein aus Ungarn stammender Milliardär, Philanthrop und – Jude. Für Verschwörungsdenkende ist Soros‘ Arbeit ein gefundenes Fressen: Sie sehen darin den Beweis eines heimlichen jüdischen Plans. Nach und nach sollen die weißen, christlichen europäischen Völker ausgetauscht werden, gegen all jene Menschen, die im rechtsextremen Weltbild als fremd und minderwertig gelten. Ausführende dieses angeblichen jüdischen Plans seien alle demokratischen Regierungen, die das Recht auf Asyl anerkennen. Die Verschwörungserzählung des „Großen Austauschs“ ist ein weiterer Beweis dafür, wie eng Rassismus und Antisemitismus im rechtsextremen Weltbild zusammenhängen.
George Soros ist für Rechtsextreme und Verschwörungsideologen zu einem Symbol geworden. Zu so etwas wie einer Chiffre. So muss man nicht „die Juden“ sagen, aber meint mit Soros genau das. Generell gilt: Sobald eine jüdische Person irgendeine Rolle im politischen Geschehen spielt, werden Verschwörungserzählungen auftauchen. Dass konnten wir auch im Ukraine Krieg beobachten. Auch dort taucht Soros wieder als angeblicher Strippenzieher auf:
Gideon Botsch
Findet man hier eine Person, die man judaisieren kann oder die wirklich Jude ist, dann lässt sich das natürlich sehr leicht einsetzen. Im Falle dieser Konfliktauseinandersetzungen in Ostmitteleuropa bietet es sich an, auf den ungarischstämmigen Mäzen George Soros hinzuweisen, der mit seinen Projekten nach seinem Verständnis demokratiefördernd in Osteuropa wirken will. Das hat natürlich auch einen Einfluss auf Demokratiebewegungen und wenn die sich dann im Euromaidan auf der Straße äußern, dann wird hier sozusagen der Link gezogen: „Aha, das hat alles der Soros verursacht“. Und dann wird gesagt, der ganze Ukraine-Konflikt sei ja eine Folge dieses Wirkens, dieses besonders reichen, jüdischen und einflussreichen Mäzens. So funktionieren diese Verschwörungserzählungen.
Nun, was im letzten Jahrtausend funktioniert hat, scheint auch heute noch zu klappen: Antidemokratische Propaganda mit antisemitischem Einschlag, und schon mobilisiert man die Massen. Aber versuchen wir mal, uns kurz auf die Logik der Verschwörungsgläubigen und Judenhasser einzulassen... Sind Jüdinnen und Juden denn jetzt schon im Besitz der Weltherrschaft? Oder sind sie erst noch dabei, die politischen Systeme zu unterwandern? Oder mal so und mal so? Es scheint ein wenig unklar zu sein. Wie schätzt unser Historiker Gideon Botsch das ein?
Gideon Botsch
Das ist ja genau unser Problem: Wir können nicht identifizieren, was genau Juden vorgeworfen wird, weil die Beweglichkeit dieses Vorurteils sein eigentlicher Vorteil für diejenigen ist, die sich seiner bedienen. Wir können Juden quasi alles vorwerfen. Wir können ihnen vorwerfen, dass sie sich der Regierung bemächtigt haben, offen. Dass sie alle Juden sind. Oder wir können vorwerfen, sie sind Diener der Juden, sie sind finanziell von Juden abhängig. Oder wir werfen ihnen vor: Juden üben Einfluss auf sie aus. Bis hin zu dem Motiv, das wir sagen: Die ganze Regierung ist ein zionistisches Besatzungsregime – das ist ein rechtsextremer neonazistischer Mythos aus den Vereinigten Staaten. Ein „Zionist Occupied Government“ – gegen die Zentralregierung in Washington. Bis hin zu der Behauptung, sie seien unmittelbar die Regierung und würden unmittelbar die Regierung stellen. Wir müssen uns einfach vor Augen halten, dass Judenfeindschaft in den Kulturen, in denen wir leben – das heißt in allen Kulturen, die sich ausgehend vom östlichen Mittelmeerraum entwickelt haben, in allen christlich- oder islamisch geprägten Kulturen und in den Folgekulturen – Vorurteile über Juden in unserer Kultur verankert sind. Und dass wir alle sie mit uns herumtragen und dass sie immer abrufbar sind. Oder nicht immer beliebig abrufbar, aber dass sie abrufbar bestehen und dass sie deswegen so gut mobilisierbar sind.
Beides – die Judenfeindschaft und der Verschwörungsglaube sind gleichermaßen vor allem in Krisenzeiten mobilisierbar. In Zeiten der Krisen oder Umbrüche entstehen Unsicherheiten und Ängste. Und die sind ein Nährboden für Verschwörungsglauben. Hinzu kommt die gefühlte oder die tatsächliche politische Deprivation. Jetzt schauen wir uns die Welt an und sehen: Klimakrise, Kriege, politische Unruhen, Terrorismus – die Welt wird nicht weniger bedrohlich werden. Und aus der Geschichte lässt sich ablesen: In solchen Zeiten nutzen Akteure gezielt antisemitische Verschwörungserzählungen für Propaganda und Hetze. Was also tun, damit wir uns oder unseren Nächsten davor schützen?
Pia Lamberty
Der Verschwörungsglaube ist ja strukturell dem Populismus sehr nahe. Im Populismus haben wir das gute Volk, den gesunden Volkskörper und die korrupten Eliten, die bösen Eliten, die ja das gute Volk nur zersetzen wollen. Und dementsprechend ist das sehr wenig verwunderlich, wenn das das Weltbild ist, dass das zu Anfeindungen, Bedrohungen und leider auch Gewalt bis hin ja auch zu Morden gegenüber Politikerinnen führt. Weil das eben so inhärent ist und so stark miteinander verwurzelt ist. Und hier ist aus meiner Sicht das wichtig, wirklich frühzeitig auch präventiv zu arbeiten, weil selbst dieses Geraune, das im Verschwörungsglauben steckt, eben schon einer Demokratie schaden kann.
Malte Holler
Und wir sollten aufmerksam sein, insbesondere dort, wo wir erkennen können, dass bestimmte Pauschalisierungen vorgenommen werden oder bestimmte Vorurteile bedient werden, die sich auf bestimmte Gruppen oder gesellschaftlich Schwache auswirken können. Wir sollten widerspiegeln, dass es hier negative Sichtweisen gibt, die Einfluss auf unsere Interpretation von Gesellschaft nehmen. Und dazu hilft es natürlich, ein bisschen Wissen sich anzueignen, aber auch sensibel zu sein gegenüber solchen ausgrenzenden Redensarten, Denkformen und Verhaltensweisen.
Wir kommen langsam zum Schluss. Fassen wir also noch mal zusammen:
Erstens, Verschwörungen in der Politik sind Realität. Einflussnahmen von zum Beispiel Wirtschaft gibt es fast überall, genauso wie Korruption oder gezielte Absprachen zwischen politischen Akteuren. Der Unterschied zwischen Verschwörungsdenken macht meistens die Größenordnung und die unterstellte Motivation der angeblichen Verschwörer und Verschwörerinnen aus: Da geht es oftmals um eine weltumspannende Super-Verschwörung. Und die Motivation der verschworenen Gruppe liegt zumeist in dem Willen, etwas zu zerstören, skrupellos, um jeden Preis. Eine Regierung, ein religiöses Wertesystem, ein Volk oder eine Nation.
Zweitens: Antidemokratische Akteure nutzen seit Jahrhunderten die Lüge einer jüdischen Einflussnahme als Mittel der Propaganda. Das ist auch heute zu beobachten. Manchmal verstecken sich diese Verschwörungserzählungen hinter unverfänglich klingenden Begriffen. Aber ungefährlich ist dieses Denken nie.
Drittens: Wie immer müssen wir uns vor Augen halten, dass wir alle für Verschwörungserzählungen, Propaganda und ja, auch Antisemitismus empfänglich sein können. Hinterfragen, Selbstkritik und das Aushalten von Widersprüchen aber auch von Gefühlen des Kontrollverlusts können helfen, sich dagegen zu wappnen.
Damit sind wir am Ende unserer Episode angekommen. Tschüss und bis zum nächsten Mal bei verdächtig mächtig.
Titelbild
Foto von Caroline Ommer auf Unsplash
Bühne Animationsvideo
goldenbogen.org
Audio
© pixabay | This Digital, QubeSounds | CC0 1.0
© artlist.io | 89574 | Cybermatic, Enzalla
© artlist.io | Slithering Woe | Song by Out of Flux
© artlist.io | Artlist Studios - The Random Pack - Decisive Transition
© artlist.io | Michael Vignola - Infinite - Logo Piano Percussion Intro
© artlist.io | Michael Vignola - Infinite - Rising Logo Minimal Sweet
Video
Wikimedia Commons | Alfons Mucha | CC0 1.0
Wikimedia Commons | Earnest Lipgart | CC0 1.0
Wikimedia Commons | CC0 1.0
Wikimedia Commons | CC0 1.0
Wikimedia Commons | CC0 1.0
Wikimedia Commons | W. Duke, Sons & Co | CC0 1.0
Wikimedia Commons | Photographie Dildilian | CC0 1.0
Wikimedia Commons | Sotiris Christidis | CC0 1.0
© Wikimedia Commons | Thelebnene | CC BY-SA 4.0
Wikimedia Commons | A. Karamitsos | CC0 1.0
© wahlplakate-archiv.de | CC BY-NC-SA 2.0 DE
© Deutsches Historisches Museum, Berlin
© Bundesarchiv, Bild 183-R16976 / CC-BY-SA 3.0
© Bundesarchiv, Bild 183-L40010 / CC-BY-SA 3.0
© artlist.io | Clip ID 6256272 | Animedias
© artlist.io | Clip ID 6256254 | Animedias
© artlist.io | Clip ID 6256249 | Animedias
Wikimedia Commons | CC0 1.0
© Wikimedia Commons | JonskiC | CC BY-SA 4.0
© Wikimedia Commons | Anthony Crider | CC BY 2.0
© Wikimedia Commons | Diego Delso | CC BY-SA 4.0
Screenshot von ADL am 20.03.2025
Wikimedia Commons | CC0 1.0
© Wikimedia Commons | Christian Cable | CC BY 2.0
© Wikimedia Commons | Evan Nesterak | CC BY 2.0
© Wikimedia Commons | Staff Sergeant Preston Chasteen | CC0 1.0
Wikimedia Commons | 痛 | CC BY-SA 4.0
Screenshot von bitchute.com am 20.03.2025
© Wikimedia Commons | Leonhard Lenz | CC0 1.0
© Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA e.V.)
© Pexels | Ahmed akacha | CC BY 2.0
© Wikimedia Commons | Furfur | CC BY-SA 4.0
© Wikimedia Commons | Takver | CC BY-SA 2.0
© Wikimedia Commons | Lucas Werkmeister | CC BY 4.0
Wikimedia Commons | CC0 1.0
© Open Society Foundations
© Wikimedia Commons | Niccolò Caranti | CC BY-SA 4.0
© flickr | Ivan Radic | CC BY 2.0
Wikimedia Commons | CC0 1.0
© Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA e.V.)
© Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA e.V.)
© Wikimedia Commons | Ivan Radic | CC-BY-SA 3.0